Der deutlich gespürte Geheimbund

Ist eine Uhrzeit wie 2.30 in der Nacht Ausrede genug für die Vermessenheit, sich als Anwalt und Sprachrohr alles wirklich Bedeutungslosen zu empfinden? Wahrscheinlich nicht. Schließlich nehme ich heute bereits den vierten Anlauf, Berlin-Pankow einen Text zu widmen. Doch immer wieder kommt ein anderes Thema dazwischen – und das nur, weil einfach jeder Fliegenschiß interessanter ist, als Pankow. Mal ehrlich, ein Text über diesen Stadtteil weckt mit Sicherheit nicht mehr Leselust als ein 2000-Seiten-Fachbuch über Eisenbahnschienenschweißnähte. Ich versuchs trotzdem. Und verbrate sofort die beste Geschichte, die mir dazu einfällt. Ist das klug? Mir doch egal.
Also:
Ich stehe in der Videothek, Nachtschicht. Ein junger Mann, höchstens knapp über die 20, betritt den Laden, Er ist eindeutig lateinamerikanischer Abkunft. Auf dem Rücken ein großer und voller alter Rucksack, in der Hand eine halbleere Flasche Bier, die schwarzen Kopfhaare bis auf einen mittellangen Irokesenschnitt abwesend. Er tritt zu mir an die Theke und fragt mich in gebrochenem Latinoenglisch, ob ich ihm etwas über Pankow erzählen könne. Schweigen. Schweigen. Was weiss denn ich schon über Pankow? Vielleicht, dass es zu Ostzeiten sehr schwer wenn nicht unmöglich war, hierherzuziehen, aufgrund der Tatsache, dass es ein Auffangbecken für Akademiker und exportierbare Künstler war? Dass hier viele Botschaften zu finden waren? Dass direkt gegenüber der Videothek das ehemalige jüdische Waisenhaus steht, dass nach einer Zeit als kubanische Botschaft nun die Stadtteilbibliothek und eine Privatschule beherbergt? Es schwant mir, dass dies nicht die Dinge zu sein scheinen, die den netten jungen Herren interessieren könnten. Aber vielleicht, dass da drüben, direkt neben der libanesischen Botschaft das ehemalige Gartenhaus der ebenfalls ehemaligen jüdischen Familie Garbaty steht, dass über eine lange Zeit nach 1989 als die Bundeszentrale der Republikaner herhalten musste, bis sich einige mir leider unbekannte Leute ein Herz fassten und auf jeden der doch zahlreichen Zaunspitzen vor dem Grundstück je einen benutzten Tampon plazierten. Dieser Aktion folgte nur einen Monat später der Auszug der Damen und Herren von rechts-weit-außen. Aber immernoch habe ich das Gefühl, dass der nette junge Weltenbummler andere Dinge zu wissen wünscht. Und richtig. Er nimmt einen finalen Zug aus seiner Bierflasche und erklärt mir dann in faszinierendem Englisch, dass man ihm erzählt habe, Pankow hätte etwas mit “Punk” zu tun und den suche er schließlich. “Uff”, sowie erneutes Schweigen. Ich sehe auf die Straße hinaus. Ein Auto fährt vorbei. Der Wind trägt ein einsames Blatt den seit Stunden kaum noch benutzten Fußweg entlang. Wir schweigen andächtig und ich denke dabei an die Panke, das kleine Rinnsal, dass hier durch idyllische Parks fließt, irgendwann unterirdisch an irgend einer anonymen Ecke nahe der Museumsinsel wie ein Abwasserkanal in die Spree tröpfelt und mit Sicherheit einen profunderen Anteil an der Namensgebung von Pankow hat… na ja. also. Der junge Mann nimmt den Rucksack vom Rücken, steckt die leere Bierflasche hinein, nimmt eine volle heraus und fragt mich, wo man denn hier Kokain kaufen könne, nur um dann umgehend, wahrscheinlich als direkte Antwort auf meine in dem Moment etwas entgleisten Gesichtszüge, beschwichtigend hinzuzusetzen: “no heroin! no heroin! just cocain!” Man möchte ja nicht missverstanden werden.
Schlußendlich schickte ich den jungen Herren in den Prenzlauer Berg zurück, natürlich mit Stolz darüber erfüllt, dass mich die Jugend einer solchen Frage für wert erachtet und nicht minder beglückt über die angemessene Coolness, mit der ich ihm weiterhalf. “Schluß des Vorhergehenden.”
Pankow bei Nacht ist ein Klischee der Friedlichkeit. Licht in ziemlich genau jedem dritten Fenster, je ein Alibiauto alle 5 bis 10 Minuten. Es ist mir bezeichnenderweise schonmal gelungen, bei einem Nachtspaziergang nebst Liebster, in rascher Folge einem Fuchs und einem Hasen zu begegnen. Das sitzt einfach zu gut. Ich bin mir sicher, in irgend einem dieser malerischen und gut restaurierten Stadthäuser gibt es eine unscheinbare Tür in ein ebenso unscheinbares Souterrain. Und darin gibt es eine Kellerklappe unter einem Teppich und dahinter einen Tunnel und an dessen Ende einen unterirdischen Palast von irrwitzigen Ausmaßen und da sind sie alle. Die unzähligen Ärzte des Viertels, die traditionsgemäß ansässigen Künstlerdynastien, die Intellektuellen und ein paar wenige Eingeweihte von ausserhalb tanzen hier jede Nacht lustgeschwängert zu erotisierenden Rhythmen der zwanziger Jahre, die ein kleines aber exquisites Orchester allabendlich darbietet und saugen sich aus unzähligen abgelaufenen Medizinpackungen gewonnenes weißes Pulver von willig dargebotenen Brüsten und Schenkeln direkt durch die Blut-Hirn-Schranke, während an einem Nebentisch eine versonnen vor sich hinstarrende Gruppe Frauen mittleren Alters und zutiefst revolutionärer Gesinnung an der Durchtränkung weiterer Tampons arbeitet, um irgend ein anderes demokratiefeindliches Monster aus Pankow hinfortzuekeln. Und irgendwann nach 3.00 Uhr, zwischen Absinth, Cunnilingus und Haloperidol werden hier die wahren Geschicke der Welt gelenkt…
Ich will da rein verdammt!