Der diskrete Charme der Ahnungs­losigkeit

(18. Mai 2020)

„Ich bin die neue Avantgarde!“ Das war einer meiner ersten Gedanken, als die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie griffen. In den letzten zehn Jahren bin ich ohnehin kaum verreist. Der Aufenthalt in Bahnzügen ist mir ein Atemnot auslösendes Greuel, in ein Flugzeug zu steigen undenkbar und selbst das Mitfahren in einem Auto – ich habe keinen Führerschein – bedeutet eine Qual, die oft genug in Hyperventilation ausartet. Also fahre ich Rad. (Full Disclaimer: E-Bike, aber immerhin…)

Während sich unter einem Großteil meiner Mitmenschen durch die hierzulande noch nicht einmal allzu strengen Regeln des Daheimbleibens Unruhe ausbreitete, war ich nur mit etwas konfrontiert, was mir seit vielen Jahren ein vertrauter Begleiter ist. Natürlich hatte ich Sorge, mich und andere anzustecken, aber als amateurneurotischer Mann mittleren Alters bin ich Hypochonder genug, um mich damit wie zu Hause zu fühlen.

Nicht erst seit der Corona-Krise habe ich das Gefühl, vieles richtig zu machen. Vor einem Jahr habe ich meinen ökologischen Fußabdruck gemessen, und fast mit Stolz – Fridays for future war gerade das beherrschende Thema – beantwortete ich alle Nachfragen zum Thema Reisen mit einem beherzten „no“. Wenn ich meinen Fleischkonsum noch stark reduziere, oder besser, den Verzehr ganz einstelle, liegt der errechnete Abdruck bei 0,98. Das bedeutet, würden alle Menschen so leben wie ich, bräuchte es 0,98 Erden, um den Gesamtbedarf dauerhaft, also unter Berücksichtung des Zeitraums zum Nachwachsen der Rohstoffe zu decken.

Wie schön! Was macht es da schon, dass ich das Richtige aus den falschen Gründen tue?

Ich habe mir meine Angststörung über viele Jahre hinweg von Fachleuten erklären lassen. Damit ein Panikanfall als etwas Pathologisches eingestuft wird, braucht es die zeitliche Loslösung der Angst von ihrem auslösenden Ereignis. Das können Traumata aus längst vergangener Zeit sein, deren manchmal nur unbewusste Erinnerung durch irgend etwas Äußerliches wie einen Geruch, ein Bild oder ein Geräusch getriggert wird, oder es sind Ereignisse, Stunden oder Tage vorher, auf die angemessen zu reagieren unterdrückt worden ist. Soweit so einfach. Leider hat die Sache einen Haken: Unsere Gehirne versuchen immer, Angstgefühle mit Ereignissen der unmittelbaren Gegenwart in Verbindung zu bringen. Selbst wenn da nichts Bedrohliches ist, rationalisiert es sich etwas zusammen, wie irrational das auch immer sein mag. „Du hast jetzt Angst, dafür muss es jetzt auch einen Grund geben.“ Passiert einem das ein paar mal zum Beispiel während einer Bahnreise, dauert es meist nicht lang, bis das Zugfahren an sich zum angstauslösenden Moment wird. Du hast mehrmals Angst beim Zugfahren gehabt = Zugfahren ist bedrohlich.

Ich vereinfache und lasse auch wesentliche Aspekte weg, aber mit Grund, denn ich will auf etwas Bestimmtes hinaus. Es heißt oft: „Menschen gewöhnen sich an Alles!“ In der Psychologie spricht man von „Shifting Baselines“, was runtergebrochen auf mein Niveau nichts anderes heißt als dass Dinge, die uns gestern noch unmöglich erschienen, morgen bereits als normal betrachtet werden können. Das muss nicht nur negativ gemeint sein. Dieser Mechanismus liegt am Grund der Möglichkeit, mehr zu werden, als man sich selbst zugetraut hat. Oder – und das ist die Kehrseite – er macht es möglich, dass wir uns an gesellschaftliche und wirtschaftliche „Reformen“ gewöhnen, die unsere Existenz Schritt für Schritt bedrohlicher machen. Ein simples Beispiel: Heute gilt selbst in einem der reichsten Länder der Welt ein Gehalt, mit dem es kaum möglich ist, eine Wohnung zu mieten und eine Familie zu ernähren, als ein gutes Gehalt und als ein Glückspilz, wer es hat. Ich kann mir vorstellen, die Menschen, die wir noch vor ein paar Jahrzehnten waren, würden uns für diesen Maßstab für verrückt halten.

Entgegen der scheinbar überall sichtbaren Beweise, dass wir uns an alles gewöhnen, wenn die Veränderungen nur langsam genug kommen, glaube ich, dass dieser Mechanismus nur zu funktionieren scheint, es aber eigentlich nicht tut.

Auf die gleiche Art, wie der, der sich weiter entwickelt hat, insgeheim nicht vergessen kann, wer er mal war, kann auch der, dem etwas weggenommen wird, nie wirklich vergessen, was er mal hatte. Die Kränkung spürt man meist sofort, die Angst vor der eigenen Wehrlosigkeit beginnt oft erst Jahre später zu wirken. Und kaum einer kann sich dann noch erinnern, was die ursprüngliche Bedrohung war. So suchen viele, deren „inneres Opfer erwacht“ (Arno Gruen) den Grund für ihre neu entdeckte Furcht in einer schwer zu greifenden und offenbar an allen Ecken bedrohlichen Gegenwart. Und wie alle, die neu sind in der Welt der Panik, schämen sie sich für ihre Angst. Schließlich haben wir fleißig gelernt, dass Furcht ein Ausdruck von Schwäche sei. In einer mit Militär- und Kampflegenden durchtradierten Welt sogar gleichbedeutend mit Feigheit. Darum nennt man es Wut, man nennt es Stolz, man nennt es Sinn für Ungerechtigkeit, der etwas Anderes ist als ein Sinn für Gerechtigkeit, doch all das meint nichts anderes als: Angst. Angst, ein ahnungsloses und angreifbares Wesen in einer unverständlichen und darum gefährlichen Welt zu sein.

Dabei liegt in dieser Ahnungslosigkeit die einzig reale Chance, der Angst ihre Macht zu nehmen. Um einmal David Lynch paraphrasiert zu haben: Man kann nur das wirklich loslassen, was einem ein Rätsel bleibt.