Hartmut Kojun sah wütend zu drei Leuten auf, die betreten auf ihn herab schauten.
»Sie machen sich lächerlich«, sagte er verbissen und wusste doch gleichzeitig, dass er es war, der sich hier lächerlich machte. Wie nebenbei schabte er mit dem Daumen der linken Hand am Lack des Steuerpultes herum. Dann bemerkte er es und hörte auf. Wenn er nicht aufpasste, würde der neue Rollstuhl bald genauso zerkratzt aussehen, wie der alte. Man könnte sich ja auch anders abreagieren, dachte er bei sich. Ein kleines Stück zurückfahren, ganz beiläufg, als wäre man aus Versehen gegen den Steuerknüppel gestoßen und dann den Hebel ruckartig nach vorn durchdrücken. Die drei würden fiegen wie Kegel, wahrscheinlich. Zumindest wäre es eine gute Möglichkeit auszuprobieren, wie viel Kraft das Gefährt wirklich hatte. Doch Kojun beherrschte sich. Es gibt eben Dinge, die man in Berliner U-Bahnen nicht macht.
Stattdessen beschloss er, die eine Trumpfkarte auszuspielen, die ein Mensch in seiner Lage immer im Ärmel hatte, auch wenn er sich dafür hasste.
»Es ist eine Schande, wie man hier behandelt wird, aber ich bin das ja gewohnt«, sagte Kojun sehr laut und mit gekonnt perfdem Anschnitt von Wehklagen in der Stimme.
Der Erfolg war größer, als er es sich hatte wünschen können. Seine Peiniger schrumpften um einige Zentimeter, und jeder im Waggon wandte sich ihnen zu. Sollen sie doch alle bezeugen können, wie ich hier diskriminiert werde, dachte Kojun mit einer Schadenfreude, die seinem Stand und Wesen nicht wirklich angemessen war.
Es dauerte einige Augenblicke, bis die drei sich erholt hatten, dann begann der Älteste unter ihnen zu sprechen: »Wir haben das Gesetz doch nicht gemacht«, meinte er betont kleinlaut.
»Aber so ist es nun mal. Wenn Sie keinen Fahrschein haben, dürfen Sie hier nicht mitfahren. Und da wir Sie so angetroffen haben, also ohne Fahrschein, verstehen Sie, müssen wir sozusagen Ihre Personalien aufnehmen. Das ist Vorschrift.«
Kojun wandte ihm den Kopf zu und schenkte dem etwa fünfzigjährigen feisten Mann einen derartig kalten Blick, dass der sofort verstummte.
Genau diesen Moment hatte sich die U-Bahn ausgesucht, um in eine große Kurve zu fahren, und durch die angeklappten Fenster seufzte das leicht melodische Quietschen der Räder herein, wie eine Schar williger Jungfrauen in die Träume alternder Fahrkartenkontrolleure. Dann war der Zug wieder auf gerader Strecke und die aufmerksame Stille, die im Waggon herrschte, wurde vom gleichmäßigenRattern der Bahn noch unterstrichen.
Zu dem Kontrolleurstrio gehörte auch eine Frau um die vierzig.
Die sackte nun noch etwas weiter in sich zusammen und Kojun hätte schwören können, sie dabei leicht wimmern zu hören. Wie sie da stand, mit einem Gesicht, als hätte ein frisch geschiedener Steinmetz nach dreiundzwanzig Jahren Ehe den Kopf seiner verhassten Ex-Frau in Gasbeton verewigt, und ganz den Eindruck erweckte, als bestünde sie förmlich aus all dem Zigarettenqualm, den sie in vielen unglücklichen Jahren dauerhaft in sich hinein geatmet haben musste, tat sie Kojun beinahe ein bisschen leid.
Sie atmete tief ein und sagte dann fast stimmlos: »Können wir bitte Ihren Ausweis sehen?« – Kojuns Mitleidsanfug trat bereitwillig zur Seite.
»Ich sitze drauf.«
Auf der voll besetzten Bank links hinter den Kontrolleuren saß ein kleiner unrasierter Mann in einem für Jahreszeit und Jahrhundert unpassenden Trenchcoat, der eine große rote Plastiktüte auf dem Schoß liegen hatte. Von der weißen Aufschrift ließ sich im Moment nur das Wort »Kulturkaufhaus« entziffern. Während die anderen Fahrgäste voller Neugier Kojuns Aktionen verfolgt hatten, war der Mann scheinbar völlig gleichgültig geblieben und hatte vor sich hingestarrt. Nun drehte er den Kopf und sah Kojun aus leuchtend hellblauen Augen an.
»Richtig so, lassen Sie sich diesen Scheiß nicht gefallen!«, sagte er
grinsend.
Kojun wandte sich wieder der Frau zu und nun umspielte auch seinen Mund der Anfug eines Lächelns.
»Wenn mich die beiden Herren kurz anheben könnten, dürfen Sie meinen Ausweis haben«, sagte er schlicht.
Wie erwartet rührte sich niemand. Hartmut Kojun bluffte, denn er hatte gar keine Papiere bei sich. Die lagen samt der Brieftasche und dem Mobiltelefon in seinem Haus auf dem Nachttisch. Nun saß er hier. Ohne die Möglichkeit zu beweisen, oder überhaupt nur zu erklären, wer er sei. Er war blindlings losgestürzt wie ein Kind zum Schokoladenregal, hatte nicht nach links und rechts geschaut, sich benommen, wie der dümmste aller Anfänger, und jetzt hatte er den Salat. Dabei hasste er die U-Bahn. Seit dreißig Jahren fuhr er Auto. Erst selbst, und dann, seit dem Vorfall vor gut zwanzig Jahren, wurde er gefahren. Inzwischen hatte er, seinem berufichen Aufstieg entsprechend sogar einen Chauffeur. Was machte er hier eigentlich? Kojun kochte vor Wut auf die eigene Blödheit und kratzte wieder an seinem Steuerpult herum.
Der ranghöchste Kontrolleur schien sich wieder gefangen zu haben und redete Kojun erneut an. Er war offensichtlich darauf aus, allen Insassen der Bahn zu beweisen, dass sich sein Beruf und politisch korrektes Verhalten keineswegs ausschlossen. Das hatte zur Folge, dass er zu laut, zu freundlich und zu akzentuiert sprach, als hätte er es mit einem Kleinkind zu tun.
»Bitte verstehen Sie doch unsere Situation. Wir müssen jeden kontrollieren. Wir haben da ganz klare Anweisungen. Uns ist das ja auch nicht immer recht. Sie sind doch ein vernünftiger Mann. Geben Sie uns einfach ihren Ausweis, wir machen einen kleinen Beleg und dann lassen wir Sie in Ruhe weiterfahren. Wie wäre das?«
Nicht gut, dachte Kojun bei sich, denn eben war ihm eine Idee gekommen, wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, die verfahrene Situation doch noch zu retten. Dafür musste er die Kontrolleure aber weiter reizen. Das fel ihm nicht allzu schwer, denn dieser Typ widerte ihn entschieden an.
Er nahm sich einen Moment Zeit, um ihm im Stillen eine ewig unzufriedene Ehefrau und eine ganze Schar naseweiser pickliger Kinder an den Hals zu wünschen, die ihrem Vater mit Vorliebe seine Spießigkeit, Blutleere und Ödnis vorwarfen und auch nicht vergaßen, ihm in regelmäßigen Abständen viel zu frühe Schwangerschaften anzudrohen. Dann zog Kojun den Steuerknüppel nach hinten und setzte den Rollstuhl mit Wucht rückwärts gegen die Zugtür. Es rummste erstaunlich laut und die Fahrgäste zuckten zusammen wie ein einziger gewaltiger Organismus. Jemand schrie kurz auf.
»Hören Sie, das geht doch nicht«, sagte der Fahrkartenkontrolleur entsetzt, »das ist Vandalismus!«
Kojuns Antwort war eindeutig. Er sah dem Mann in die Augen und wiederholte das Manöver, indem er zunächst zwei Meter nach vorn fuhr und dann den Steuerknüppel erneut nach hinten riss.
Es rummste noch einmal und der Kontrolleur rief: »Sie zerstören das Eigentum der BVG! Dafür muss ich Sie anzeigen!«
In diesem Moment fuhr die U-Bahn in den Bahnhof Alexanderplatz ein. Leute waren aufgestanden und stellten sich wartend an die anderen Türen, den Blick unverhohlen auf den verrückten Rollstuhlfahrer gerichtet. Auch der Bahnsteig war voller Menschen, die ihrerseits darauf warteten, einsteigen zu dürfen. Der Zug hielt und die Türen öffneten sich. Kojun warf noch einen Blick auf die Kontrolleure, die ihn wütend anstarrten, dann auf den Mann mit der roten Kulturkaufhaus-Plastiktüte, der amüsiert wirkte und offensichtlich nicht vorhatte, hier auszusteigen.
Erleichtert drückte Kojun den Steuerknüppel nach vorn und raste aus dem Waggon. Dabei brüllte er irgend etwas. Was, war ihm im Prinzip egal.
Als er die kleine Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante überfuhr, hätte es ihn beinahe aus dem Sitz geschleudert, doch er hielt sich. Menschen sprangen laut schreiend aus seinem Weg, und Kojun glaubte hinter sich das Lachen des Mannes mit der Plastiktüte zu hören. Ein kurzer Blick über seine Schulter verriet ihm, dass die Kontrolleure hinter ihm her rannten.
Der Rollstuhl war verblüffend schnell. Nach nur ein paar Sekunden war Kojun dem gegenüberliegenden Gleis gefährlich nahe gekommen, und er schickte vorsorglich an alle Heiligen ein Stoßgebet. Einer würde schon dabei sein, der hier verantwortlich war. In letzter Sekunde riss Kojun den Steuerknüppel nach links und lehnte sich, soweit es ihm möglich war, in die gleiche Richtung. Das Manöver gelang, auch wenn das rechte Hinterrad des Rollstuhls einen Moment lang bedrohlich über dem tief liegenden Gleisbett
schwebte.
Irgendwo schrie jemand. Irgendwo anders applaudierte johlend eine Gruppe Jugendlicher. Kojun raste an der Gleiskante entlang, vorbei an einem grell leuchtenden Imbissstand, bis zu einem Zeitungskiosk. Dort stoppte er abrupt und sah sich kurz um.
Die Kontrolleure waren gut fünfzig Meter entfernt und rannten mit hochroten Köpfen auf ihn zu, als sein Blick auf einen prall gefüllten Zeitungsständer fiel, der mit den neusten Ausgaben subseriöser Gazetten gefüllt war. Alle schienen, wie seit Tagen schon, nur ein Hauptthema zu haben: den Serienmörder, den man, ausgelöst durch die überbordende Dummheit eines Redakteurs, überall nur noch den »Halsabschneider« nannte. Der Täter hatte es auf alte alleinstehende Frauen abgesehen, die er beraubte und ermordete. So weit so einfach. Merkwürdig war hier jedoch die Art des Mordes und die Folgehandlungen, denn der Mörder tötete seine Opfer, indem er sie mit einer sehr scharfen Machete enthauptete und dann nicht nur sein Diebesgut, sondern auch die Köpfe der Frauen mitnahm, sechs mal bisher – soweit Kojun wusste.
Kojun schaute sich um und bemerkte, dass ihm seine Verfolger schon wieder gefährlich nahe gekommen waren. Einem plötzlichen Impuls folgend, riss er eine der Zeitungen aus dem Ständer, nahm sie an sich und fuhr wieder los. Er umrundete elegant den Kiosk und nahm mit Hilfe einiger gekonnter Schlenker Kurs auf den Waggon, aus dem er gekommen war.
Die Türen wollten sich gerade schließen, als Kojun hindurchraste. Diesmal reichte der Bremsweg nicht, und er knallte mit großer Wucht an die gegenüberliegende Tür. Es hob ihn aus dem Sitz, doch darauf vorbereitet hatte Kojun die Arme nach vorn gestreckt, prallte ab und landete wieder in seinem Rollstuhl, als sei nichts gewesen.
Wieder schrie jemand und Kojun schoss unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf, dass heute womöglich »Welthysterietag« ist. Die meisten Leute im Zug schauten ihn entgeistert an, nur der Herr mit der Plastiktüte bog sich vor Lachen.
Die beiden Männer des Kontrolleurstrios hatten es gerade noch geschafft, in den Zug zu springen, wobei der hintere, ein junger Mann, kaum älter als zwanzig, seinen Jackenärmel aus der geschlossenen Tür reißen musste. Die Frau war zu spät. Ihr blieb nichts weiter übrig, als der losfahrenden Bahn mit weit aufgerissenen Augen hinterher zu starren.
Der ältere BVG-Mann atmete einen Moment lang schwer und rasselnd, dann fing er sich, und als er auf Kojun einsprach, der ihm immernoch den Rücken zukehrte, fehlte ihm hörbar jeder Wille zur Rücksicht gegenüber einem Behinderten.
»Sind Sie komplett dämlich oder was? Krüppel allein reicht wohl nicht!«
Eisige Stille senkte sich im Waggon herab.
Kojun vollführte mit dem Rollstuhl eine rasche Drehung um 180 Grad und die beiden Kontrolleure sprangen erschrocken zurück – doch er lächelte ihnen nur freundlich ins Gesicht und sagte trocken: »Sieh an. Sie sind ja doch empfndungsfähig. Wer hätte das gedacht?«
Der Kontrolleur spürte wohl, dass sich alle Blicke im Waggon auf ihn richteten und ahnte offensichtlich, dass er zu weit gegangen war.
»Ich entschuldige mich für meine letzte Bemerkung. Mir sind einfach die Nerven durchgegangen«, stammelte er mit hochrotem Kopf in Richtung seiner Füße.
Jetzt war Kojun wirklich sauer. Nicht nur, dass ihn das Verhalten des Mannes anekelte, er gefährdete auch noch den Plan. Irgend etwas musste geschehen und zwar dringend, denn schon an der nächsten Station konnte alles zu spät sein.
Doch in diesem Moment schien sein Stoßgebet an der richtigen Stelle angekommen zu sein, denn der Zug bremste mitten im Tunnel ab und kam zum Stillstand. Aus den Lautsprechern in der Waggondecke quoll eine knarzende Stimme: »Werte Fahrgäste! Aufgrund von Bauarbeiten verzögert sich unsere Weiterfahrt um einige Minuten. Wir danken für Ihr Verständnis.«
Nun herrschte wirklich Stille.
Kojun erkannte seine Chance und nutzte sie umgehend – er schob den Steuerknüppel nach vorn. Zuerst fuhr der Rollstuhl beiden Kontrolleuren über je einen Fuß, dann rammte er die Zugtür mit einem wiederum verblüffend lauten Knall. Die BVG-Männer schrien auf – irgendwo im Zug schloss sich ihnen jemand an – dann hopsten sie herum wie Gummibälle.
Diesmal fing sich der jüngere der beiden zuerst. »Jetzt reicht’s«, zischte er mit vor Schmerz und Wut verbissenem Blick, dann zückte er ein Mobiltelefon. »Ich ruf die Polizei. Sollen die sich doch mit Ihnen prügeln!«
In diesem Moment drehte sich der Mann mit der roten Plastiktüte zu ihnen um und sagte seufzend vor Langeweile: »Lassen Sie den Mann in Ruhe. Sie haben ihn schwer beleidigt. Das kann hier jeder bezeugen.«
Kojun, scheinbar völlig desinteressiert an allem, was um ihn herum geschah, zog den Steuerknüppel wieder nach hinten, worauf er die schon stark in Mitleidenschaft gezogene Tür erneut rammte. Nun drehte sich der Mann mit der Tüte zu ihm um.
»Hören Sie doch auf«, sagte er und sah Kojun ruhig ins Gesicht.
Der Mann war nicht älter als fünfunddreißig, angemessen schlecht elektrorasiert und hatte freundliche Züge um Augen und Mund. Der alte Fahrkartenkontrolleur rieb sich jammernd den überfahrenen Fuß, während der junge an seinem Mobiltelefon herumfngerte, doch Kojun ließen die beiden kalt. Er widmete sich seinem neuen Bekannten.
»Sie fragen sich, warum ich das mache«, sagte er in das verblüffend schöne Gesicht des Mannes.
»Nicht wirklich«, antwortete der abweisend. »Mir hat ihre kleine Vorstellung gefallen, und ich fnde, einfach von der Polizei abgeführt zu werden, ist ein enttäuschendes Ende.«
Der junge BVG-Mann bekam eine Sprechverbindung: »Hier BVG Fahrkartenkontrolle. Linie U2, Richtung Ruhleben. Wir erreichen die Station Klosterstraße in ungefähr drei Minuten. Wir brauchen umgehend Unterstützung bei einem gemeingefährlichen Schwarzfahrer. Ein Randalierer…«
Kojun schenkte dem keine Beachtung und führte das eigene Gespräch weiter.
»Bisher habe ich Sie also gut unterhalten und jetzt bin ich enttäuschend? Vielleicht kann ich mir ja einfach kein besseres Ende vorstellen. Hätten Sie eine Idee?«
»Ein besseres Ende als das kann ich mir immer vorstellen«, sagte der Mann. »Ich wollte Ihnen helfen, aber wenn Sie es nicht anders wollen, lassen Sie sich eben verhaften.« Dann setzte er sich wieder.
Der junge Fahrkartenkontrolleur brüllte in sein Telefon, offensichtlich war die Verbindung schlecht: »Der Mann sitzt im Rollstuhl. ROLLSTUHL! Sie haben richtig verstanden. Nein, er gibt seine Personalien nicht heraus. Er sagt, er sitzt auf seinem Ausweis… Was lachen sie da…«
Hier und dort war auch in der Bahn leises Kichern zu hören. Kojun drehte sich zu dem telefonierenden BVG-Mann um, hielt seine Zeitung hoch und sagte gelassen: »Die habe ich übrigens nicht bezahlt.« Doch dem Kontrolleur war nicht danach zumute, sein Telefonat in die Länge zu ziehen. Er seufzte lediglich ein atemloses »Danke« in sein Telefon und legte auf.
»Erzählen Sie das der Polizei. Sie erwartet uns an der nächsten Station«, sagte er noch hämisch und wandte sich an seinen immer noch jammernden Kollegen.
Kojun zuckte gelangweilt mit den Schultern und schlug die Zeitung auf. Die Titelseite wurde von einem Tatortfoto eingenommen: eine Bahre, ein Leichentuch, darunter offensichtlich ein Körper, daneben ratlos drein blickende Polizisten. Über allem prangte die Überschrift »HALSABSCHNEIDER ENTHAUPTET FÜNFTE FRAU – Polizei unfähig?« Das Übliche eben.
Kojun seufzte, dann drehte er sich zu dem Mann mit der Plastiktüte um und hielt die Titelseite hoch.
»Und das?«, fragte er diesen eigenartig schönen Mann, »wie, meinen Sie, soll das ausgehen?«
Der Mann warf einen kurzen Blick auf die Zeitung, dann auf Kojun, und sein Blick war überaus gelangweilt, als er sagte: »Was geht mich das an, wenn Leute durchdrehen?«
»Reden Sie von dem da, oder von mir?«
»Von beiden.«
Kojun lächelte breit. »Meinen Sie auch, dass der nicht in die Fänge der Polizei geraten sollte?«
»Den kriegen die Idioten nie. Höchstens, wenn er mit dem Kopf und der Machete unter dem Arm in ein Polizeirevier rennt. Wenn überhaupt, schnappt ihn ein Nachbar und wahrscheinlich auch nur wegen nächtlichen Herumschleichens. Der brät ihm eins mit der Pfanne über und bekommt auf der nächsten Schrebergartenversammlung ein Gratisbier und einen Orden, den irgendwer noch an seiner alten Uniform hatte.«
Der Zug fuhr wieder an. Ein erleichtertes Seufzen ging durch die Reihen der Fahrgäste und die beiden Kontrolleure stellten sich hinter Kojun auf, um ihn hämisch anzugrinsen, doch der ignorierte sie standhaft.
»Für einen so schönen Menschen klingen Sie sehr bösartig.«
Der Mann drehte ihm das Gesicht zu und sein Lächeln war von einer Freundlichkeit, als würde mitten in der U-Bahn die Sonne aufgehen.
»Es kommt oft vor, dass Leute mein Gesicht sehen und glauben, es wäre meine Pficht, mir jederzeit ihre Probleme anzuhören. Die Wahrheit ist, ich will einfach nach Hause. Darum nochmal deutlich: Ihr Verrückter ist mir egal, und Sie sind es auch. Ihre kleine Show war lustig, aber jetzt nervt es nur noch. Lassen Sie sich verhaften, wenn Sie es brauchen, aber lassen Sie mich in Ruhe.« Damit erstarb das Lächeln auf seinem Gesicht und er drehte sich weg.
Kojun verbeugte sich höfich und wendete den Rollstuhl so weit, dass er die Tür und die Kontrolleure wieder vor sich hatte, die mit verschränkten Armen vor ihm standen. Er würdigte sie keines Blickes. Auch wenn Kojun sich den Anschein vollkommener Gelassenheit gab, war ihm mehr als mulmig. Er war zu weit gegangen und das hätte beinahe alles verdorben. Schlimmer noch, er war kurz davor gewesen, eine reale Gefahr herauf zu beschwören. Er benahm sich wie ein blöder Anfänger. Kojun ermahnte sich zur Ruhe und konzentrierte sich. Jetzt kam alles darauf an, wie viel Polizisten auf ihn warteten und wie geistesgegenwärtig sie sein würden.
Der Zug rollte in den Bahnhof ein und bremste, während Kojun sich anspannte. Dann sah er sie – zwei Beamte mittleren Alters zogen mit müden Gesichtern an seinem Blickfeld vorbei. Was hatte er erwartet? Ein Sondereinsatzkommando? Für einen geltungsbedürftigen Rollstuhlfahrer? Wohl kaum. Hätte er mit Sprengstoff gedroht oder mit einer unter den Sitz geklebten Giftgasfasche, aber das hätte Kojun nicht übers Herz gebracht. Also musste es auch so gehen. Wenigstens waren so schon nur wenige Menschen auf dem Bahnsteig, und es schien kaum jemand aussteigen zu wollen.
Der Zug hielt, der ältere Kontrolleur öffnete die Tür, sprang aus dem Wagen und winkte die beiden Polizisten zu sich. »Hier ist es. Hier.«
Die Beamten kamen gemächlich angetrabt.
Kojun hob den Blick und sah den beiden direkt ins Gesicht. Das wirkte. Die Polizisten erstarrten mitten in der Bewegung, alle Müdigkeit bröckelte von ihnen ab und mit offenen Mündern glotzten sie den Mann im Rollstuhl an. Das alles geschah im Bruchteil einer Sekunde.
»Gute Refexe«, knurrte Kojun.
Die Kontrolleure, die eben noch selbstgefällig grinsend und mit verschränkten Armen dagestanden hatten, merkten, dass hier etwas beträchtlich daneben lief und schauten verwundert zwischen den Beamten und Kojun hin und her, als einer der Polizisten seine Sprache wiederfand:
»Aber… Herr Polizeipräsident.«
Ein Ruck ging durch die Fahrgäste, als sich alle wie auf einen Befehl hin nach dem seltsamen Rollstuhlfahrer umdrehten – alle, bis auf einen.
»Schnauze«, blaffte Kojun, »mitkommen!«
Mit einem Ruck drehte er sich zu dem Herrn mit der Kulturkaufhausplastiktüte um, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihm die beiden Polizisten tatsächlich gefolgt waren.
»Ich muss Sie leider noch einmal belästigen«, sagte Kojun ruhig zu dem Mann, der nun endlich auch den Kopf hob und den Polizeipräsidenten von Berlin gelangweilt ansah.
»Was wollen Sie denn noch?«
»Würden Sie mich und die beiden Beamten bitte auf den Bahnsteig begleiten?«
»Und warum sollte ich das tun?«
»Damit wir gemeinsam einen Blick in ihre Plastiktüte werfen können.«
Der Mann zog verwundert die Augenbrauen hoch. »In die Tüte? Wozu soll das denn gut sein?«
»Ich glaube, dass sie sachdienliche Hinweise bezüglich eines Verbrechens enthält. Eines schweren Verbrechens.«
»Wer sind Sie überhaupt?«, fragte der Mann und allmählich schwang in seiner Stimme etwas mit, was entfernt an Anspannung erinnerte.
»Mein Name ist Hartmut Kojun. Ich bin der Polizeipräsident von Berlin.«
»Ehrlich? Na da haben Sie uns alle aber schön verarscht. Geht’s Ihnen jetzt besser? Ich vermute, Polizisten werden für solchen Mist nicht belangt, oder?«
»Ich bitte Sie nochmals, uns nach draußen zu begleiten.«
»Was glauben Sie denn, was in der Tüte ist?«
»Das wollen wir doch wohl nicht hier drin besprechen.«
»Ich will aber nicht aussteigen. Was soll ich denn überhaupt gemacht haben?«
»Wie Sie wollen. Ich bin davon überzeugt, dass diese Tüte den Kopf meiner Nachbarin enthält, die sie vor einer Stunde in ihrem Haus mit einer Machete enthauptet haben.«
Die Fahrgäste erstarrten. Jemand schrie. Der Mann begann zu lachen, doch gute Stimmung wollte nicht aufkommen.
»Heute muss Welthysterietag sein«, sagte er, »in dieser Tüte ist nur wertloser Müll. Sie machen sich lächerlich.«
»Ich möchte den Kopf von Frau Blaschke ungern als wertlosen Müll bezeichnet wissen, auch wenn sie in letzter Zeit etwas wunderlich wurde.« Und zu den Beamten gewandt fügte er hinzu: »Führen Sie den Herrn bitte aus dem Waggon.«
Die Polizisten traten vor, doch den nächsten Zug machte der Mann. Blitzschnell sprang er auf und schleuderte mit aller Kraft einem von beiden die Tüte gegen die Nase. Der Beamte taumelte und Blut spritzte in alle nur denkbaren Richtungen. Er rammte seinen Kollegen, beide stolperten über den Rollstuhl und felen Kojun bäuchlings in den Schoß. Der Mann rannte zu einer anderen Tür und stürmte aus dem Waggon.
»Idioten!«, schrie Kojun, riss den Steuerknüppel nach hinten – die Polizisten schlugen hart auf dem Boden auf – wendete ruckartig seinen Rollstuhl und raste nach vorn. Das Gefährt holperte ein paar mal und an den folgenden Aufschreien erkannte Kojun, dass er wiederum die Füße der Kontrolleure erwischt hatte, als er zum zweiten Mal an diesem Tag mit Höchstgeschwindigkeit auf einen Bahnsteig preschte.
Der Mann hatte gut fünfzig Meter Vorsprung und wenn er es bis zur Treppe schaffte, war alles zu spät. Kojun fuchte laut und drückte den Steuerknüppel so weit nach vorn, dass der abzubrechen drohte. Der kleine Elektromotor jaulte und knackte, als stecke in ihm eine Katze, die mit Peitschenhieben angetrieben wird. Er kam dem Mann zwar immer näher, doch der war nur noch zwanzig Meter vom Treppenabsatz entfernt. Wahrscheinlich würde es nicht reichen, doch Kojun dachte nicht daran aufzugeben. Im Zug hatten sich die Fahrgäste an die Scheiben gepresst und starrten mit offenen Mündern auf das seltsame Schauspiel. Die wenigen Leute auf dem Bahnsteig füchteten sich derweil auf die Sitzbänke.
In diesem Moment erreichte der Mann den Treppenabsatz und mit nur einem einzigen Sprung überwand er fünf Stufen. Kojun entschied sich im Bruchteil einer Sekunde und bremste den Rollstuhl nicht ab. Der knallte mit voller Wucht gegen die untere Treppenstufe, und Hartmut Kojun, Polizeipräsident von Berlin, wurde mit Vollgas aus seinem Sitz geschleudert.
Man kann nicht wirklich behaupten, dass in den paar Sekunden Flug sein Leben an ihm vorbeizog. Nein, es reichte nur für ein Bild: wie er im Alter von neun Jahren mit einem Cowboyhut auf dem Kopf vom Scheunendach seines Großvaters sprang. Damals wie heute überkam ihn ein derartiges Gefühl von allgewaltiger Freiheit, dass ihm nach Schreien zumute war. Als Kind hatte er das auch eine Viertelstunde lang getan, was zur Folge hatte, dass sein Großvater sich fortan weigerte, jemals wieder auf dieses Kind aufzupassen.
Diesmal kam es gar nicht soweit. Kojun hatte gerade die Arme ausgebreitet und tief Luft geholt, als auch schon alles vorbei war. Mit einem für die Dramatik des Augenblicks unangemessen dumpfen Geräusch landete er auf dem Rücken des Mörders, der gerade zum Flug über die nächsten fünf Stufen angesetzt hatte. Im Fallen schlug der Mann gegen eine Kante und versank augenblicklich im dunklen Reich der Ohnmacht – Kojun folgte ihm nur einige Sekunden später.
Er wurde davon wach, dass ihn jemand ohrfeigte und dazu immerfort seinen Dienstgrad rief. Kojun öffnete die Augen und packte die Hand, die schon wieder ausholte. Dem Brennen seiner Wangen nach zu urteilen, hatte sie das schon einige Male getan. Er sah in das Gesicht eines der beiden Polizisten und das sah nicht gut aus. Die Nase war offensichtlich gebrochen und dickes Blut sickerte dem Beamten am Kinn herab.
»Sie bluten mir aufs Hemd.«
»Entschuldigung, Herr…«
»Ich weiß, was ich bin. Danke. Nehmen Sie sich erstmal ein Taschentuch und machen Sie sich sauber.«
Der Polizist kam dieser Aufforderung umgehend nach. Kojun gab ihm eine Minute, die er selbst dazu nutzte, den Blick wieder scharf zu stellen.
»Wo ist der Mann?«
»Ist da ans Treppengeländer geschlossen. Hat eine große Beule, ist
ansonsten aber okay.«
»Mein Rollstuhl?«
»Soll ich Sie rein setzen?«
»Wenn es nicht zu viel Mühe macht«, sagte Kojun etwas spitzer als gewollt und bereute es sogleich. Der Polizist ging eilfertig um ihn herum, packte ihn unter den Achseln, hob ihn an und schleifte ihn mühsam weg. Dabei felen Kojun in einem fort dicke Blutstropfen in den Nacken, doch das war bei weitem nicht das Schlimmste. Einmal hochgehoben wurde dem Polizeipräsidenten das peinliche Ausmaß der ganzen Angelegenheit mehr als offenbar. In der U-Bahn war kein Mensch mehr. Alle hatten sich zu einer ge waltigen gaffenden Traube auf dem Bahnsteig zusammen gefunden. Einige brüllten aufgeregt Sätze in ihre Mobiltelefone, andere fotografierten. So sehr Kojun Schaulust hasste, konnte er die Leute doch verstehen, denn das, was sich ihnen hier bot, war bühnenreif: Ein ramponierter Mann, der mit Handschellen an ein Treppengeländer gefesselt ist, ein wahrscheinlich nicht minder demoliert aussehender Querschnittsgelähmter, der von einem Polizisten unsachgemäß in einen kaputten Rollstuhl gepfercht wird, dem wiederum aus seiner mehrfach gebrochenen Nase dickes schwarzes Blut quillt, sowie als Krönung des Ganzen ein zweiter Polizist, der neben einer halb geöffneten Kulturkaufhausplastiktüte steht, und sich ungeniert die Schuhe vollkotzt.
Das Steuerpult des Rollstuhls war herausgerissen und baumelte, nur noch von ein paar Drähten gehalten, an der Seite herunter. Kojun wollte resigniert den Kopf schütteln, aber der tat zu weh. Er atmete einmal tief durch und wandte sich an den Polizisten, der sich ein neues Taschentuch aufs Gesicht gedrückt hatte.
»Rufen Sie Verstärkung, sichern Sie die Plastiktüte, und räumen Sie Ihren Kollegen da weg. Dann scheuchen Sie die Leute auseinander. In zwei Minuten ist die Bahn losgefahren, verstanden?«
Der Beamte nickte nur und machte sich an die Arbeit. Kojun hingegen kämpfte sich mit dem Rollstuhl nahe an den Mann heran, der mit Handschellen an das Treppengeländer geschlossen war und ihn aus recht verquollenen Augen in jeder Hinsicht von oben herab ansah. Der Polizeipräsident lächelte gelassen zurück.
»Solche Blicke bekomme ich heute öfter.«
»Muss an Ihnen liegen«, entgegnete der Mann höhnisch.
»Wie heißen Sie?«
»Hab ich vergessen. Und ich sitze auf meinem Ausweis.«
»Warum haben Sie das gemacht?«
»Rentner kosten zu viel.«
»Das Ganze ist also Ihr Beitrag zur Wirtschaftskrise?«, fragte Kojun immernoch lächelnd, obwohl ihm alles andere als nach Lachen zumute war.
»Wenn Sie so wollen.«
»Warum alte Frauen? Warum nicht alte Männer? Langzeitarbeitslose? Behinderte?«
»Alte Weiber haben am meisten auf der hohen Kante.«
»Also doch, ganz gewöhnlicher Raubmord. Aber warum dann die Köpfe?«
Der Mann grinste noch breiter. »Wer steht schon gern als gewöhnlicher Raubmörder in der Zeitung?«
Kojun sah sich um. Einer der Polizisten saß kreidebleich und mit besudelter Uniform am Treppenaufgang, während der andere verzweifelt versuchte, mit blutender Nase die Menschenmassen auseinander zu treiben, doch die Leute waren nicht von der Stelle zu bringen. Sie lachten, pöbelten, fotograferten und gafften. So lächerlich die Behauptung des Mörders auch geklungen haben mochte, bei dem Anblick konnte Kojun nicht anders, als zumindest zu glauben, dass es so gewesen sein könnte. Ein Halsabschneider unter vielen.
Kojun erschrak, als der Mörder ihn wieder ansprach.
»Sie haben mich beobachtet?«
»Ja. Manchmal schlafe ich im Rollstuhl ein und dann werde ich morgens sehr früh wach. Und meistens fahre ich in den Garten, um eine zu rauchen. Und da sah ich Sie, wie Sie den abgetrennten Kopf von Frau Blaschke in Ihre Tüte stopften und…«, Kojun zögerte einen Moment, »…die Machete hinterherstießen.« Der Mann lachte leise.
»So ist die Machete geschützt und durchlöchert mir nicht aus Versehen die Tüte. Und dann sind Sie mir Hals über Kopf hinterher gerollt?«
»Ja. Dumm, nicht wahr?«
»Konnten Sie keine Verstärkung rufen? Eine Personenbeschreibung durchgeben, irgendwas?«
»Ich hatte mein Telefon im Haus liegen lassen, meine Papiere auch, und wenn man die Polizei mal braucht…«
Der Mann lachte laut los. »Das ganze Theater nur, um Verstärkung zu bekommen? Glückwunsch, Herr Polizeipräsident. Sie können sich rühmen, einem der schlechtesten Polizeieinsätze der letzten Jahre vorgesessen zu haben.«
»Sieger werden nicht bestraft.«
»Nein, wohl nicht. Aber eins müssen Sie mir noch verraten. Warum haben Sie die Leute in der Bahn derartig in Gefahr gebracht, indem Sie mich zwischen allen Leuten beschuldigt haben? Ich hätte ausrasten können.«
Kojun nahm eine Schachtel Zigaretten aus der Hemdtasche, dann ein Feuerzeug, zog eine stark zerdrückte Zigarette heraus und zündete sie sich an. Er sah dem Mann erneut ins Gesicht.
»Mir war halt danach.«
»Ich verstehe. Ein einsamer Cowboy, der die gleichgültig gewordene Menschenmasse wieder mal etwas fühlen lassen wollte? Sie gefallen mir.«
Kojun sah ihn lange an, bevor er antwortete.
»Mir graut vor Ihnen«, sagte er nur und wandte sich ab.
In dem Moment kamen die beiden Kontrolleure angehumpelt. Der ältere blieb dicht vor Kojun stehen und sah ihn mit eiskaltem Blick an.
»Hier ist Rauchen verboten.«
Kojun ignorierte ihn.
Vom oberen Ende der Treppe waren schnelle Schritte zu hören. Die Kavallerie traf ein. Drei Beamte waren vorgelaufen, sahen ihren Chef, blieben stehen und nahmen Haltung an. Einer wagte den Vorstoß: »Guten Morgen, Herr Polizeipräsident.«
»Ich weiß, was ich bin«, entgegnete Kojun seufzend, »jetzt machen Sie sich nützlich und bringen mich nach oben. Ich werde hier nicht mehr gebraucht.«
Die drei Beamten sahen sich einen Moment lang verdutzt an, dann griffen sie links, rechts und hinten den Rollstuhl und trugen den rauchenden Polizeipräsidenten von Berlin, der sich tatsächlich ein wenig fühlte wie ein einsamer Cowboy, die Treppe hinauf – der aufgehenden Sonne entgegen.